Vorarlberg – eine städtische Region?

Neben Wien und Innsbruck ist das Rheintal nun offiziell eine urbane Region. Was bedeutet das für das Vorarlberger Selbstverständnis? Bestätigung oder Identitätskrise? Ein Kommentar von Bertram Meusburger. 

Blick auf das Rheintal

Jetzt haben wir es schwarz auf weiß – Vorarlberg ist urban

Oder doch nicht? In der Einteilung der NUTS 3-Regionen durch die Europäische Kommission wird das Rheintal-Bodenseegebiet zu den drei überwiegend städtischen Regionen Österreichs gezählt (VN-Bericht vom 1.2.2021). Umgeben von überwiegend ländlichen Regionen, zumindest im Inland. Eigentlich sagt es im Wesentlichen nur etwas über die Bevölkerungsdichte und Erreichbarkeit aus, mag uns im Vergleich mit anderen Regionen aber doch etwas überraschen.

Und ist das nun gut und wollen wir es überhaupt? Kennen wir doch die Aussagen in so manchen (auch größeren) Gemeinden im Rheintal, die in ihren Leitsätzen festhalten, dass sie Dorf bleiben wollen.

Unser Anspruchsdenken bringt Gemeinden oft an ihre Grenzen

Wenn man BürgermeisterInnen fragt, wie sie unseren Lebensraum sehen, dann berichten sie von der Erfahrung, dass das Anspruchsdenken der Bevölkerung in den letzten Jahren enorm gestiegen sei. Nicht nur das Angebot an Kinderbetreuung ist zum Standard geworden, sondern auch die Nachfrage nach Sport- und Freizeitinfrastruktur ist gewachsen. Und wenn man die Qualität und Dichte an Kulturveranstaltungen in der Kulturzeitschrift mitverfolgt, spiegelt das keineswegs eine provinzielle Situation wider.

Nicht nur die äußeren Gegebenheiten, sondern auch unser Lebensstil ist inzwischen längst mehrheitlich urban. Und das bis in die hintersten Talschaften. Schauen wir nur unseren Umgang mit Mobilität, die täglich benutzten digitalen Hilfsmittel bis zu den Wohnraumansprüchen an. Interessanterweise kann unsere Einstellung trotzdem sehr ländlich bleiben (und die Prägungen und die Geschichte sowieso). Nachbarschaftliche Verbundenheit und das naturbelassene Erholungsgebiet in der Nähe bleiben hoch im Kurs. Ebenso die Facharbeiter aus den Talschaften. Der traditionelle Dorfmarkt neben dem architektonisch modernen Frauenmuseum. Für viele ein attraktiver Mix.

Unser Lebensstil ist urban, unsere Sehnsüchte sind ländlich

Andererseits bringt das die Gemeindeverantwortlichen auch unter starken Zugzwang. Wer eine attraktive Gemeinde sein will, muss Angebote machen können, auch wenn dies im Einzelfall nicht selten hinterfragbar ist. Können und wollen wir uns wirklich diese Anzahl an Sportstätten und Dichte an Feuerwehren leisten? Zugegeben ein heißes Eisen. Hier wird in vertrauter Runde betont, dass es in Zukunft durchaus deutlich mehr Kooperation brauchen wird und über den Kirchturm geschaut werden müsse. 

Wenn wir diesen Entwicklungen nicht bewusst in die Augen schauen, nehmen wir schleichende Entwicklungen (wie z.B. den Flächenverbrauch oder Biodiversitätsverlust) in Kauf, ohne die dringend notwendige und anspruchsvolle Auseinandersetzung, welche Form von Urbanität wir wollen? Wo wir bewusst in einen städtischen Charakter investieren (z.B. in Bildung oder Wohngemeinschaften) und wo wir verzichten müssen. Geht sich die derzeit organisierte Bürgernähe und Verwaltungsstruktur weiterhin so aus?

Bauernhaus Bregenzerwald_Bernfried Schnell
Seebühne Bregenz_Pixabay

Urbane Nähe – Vielfalt auf kleinstem Raum

Fakt ist, es gibt beides: die Sehnsucht nach dem Städtischen und nach dem Ländlichen. Wenn dies nicht Kitsch sein soll, dann müssen wir uns deutlicher fragen, wo und welche urbanen Qualitäten wir weiterentwickeln wollen und welche dörflichen Charakteristika geben diesem Land erst ihren Reiz und dürfen nicht zu noch mehr in eine „Als ob-Mentalität“ abdriften (z.B. Dreistufenlandwirtschaft). Und wenn es stimmt, wie vielerorts geschrieben wird, dass in Zukunft vor allem große Städte das Potenzial haben werden, entscheidende, wirkungsvolle Schritte für die wirklichen globalen Herausforderungen zu setzen und nicht die Staaten, geschweige denn die Provinzen, dann gibt das zu denken. 

In diesem Sinne ist das Selbstverständnis (und nicht die Selbstüber- oder -unterschätzung) von Vorarlberg mit einem städtischen Bereich von gravierender Bedeutung. Das größere Rheintal ist eben auch keine Metropole, die alles an sich saugt und das ländliche Umfeld nicht von Abwanderung bedroht.

Wo der Specht mit der Kirchturmglocke wetteifert

Städtisch ist ja nicht per se besser/schlechter, schon gar nicht, wenn mit CoVid das Land eine gewisse Renaissance erlebt. Die Frage ist, was zu unserem Lebensraum in diesem 4-Ländereck gut passt? Ist es vielleicht eine LandStadt, die ihr eigenes, ausbalanciertes Ökosystem an Strukturen, Qualitäten, Besonderheiten (für Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Einkaufen, Kultur ….) entwickelt hat? Vorarlberg wird nur unter bewusster Planung in dieser Geschwindigkeit quantitativ wachsen können, aber qualitativ ist noch viel Luft nach oben. Damit ist nicht nur die Verdichtung nach innen oder eine bewusste Gestaltung von Charakterorten, die identitätsstiften wirken können (, wenn sie nicht ein Einheitsbrei sind), angesprochen, sondern auch das kluge Zusammenwirken von städtischer Region und ländlichem Umfeld. Und das eben nicht in einem hierarchischen oder gar konkurrenzierenden Sinne, sondern wie kommunizierende Gefäße als ein zusammengehörendes Ganzes.

Spannender als eine „smart city“ nachzuahmen ist es, eine zu unseren Bedürfnissen und Kompetenzen passende Lebensgemeinschaft in diesem besonderen Lebensraum zu verfeinern und weiterzuentwickeln. Dafür braucht es Begegnungs- und Experimentierräume (sogenannte 3.Orte neben Wohnen und Arbeiten) statt trostloser großstädtischer Anonymität.

Text: Bertram Meusburger